In 1959 war Elias Canetti 54 Jahre alt, als er auf seinen Aufzeichnungen schrieb: “Gestern ist das Manuskript von Masse und Macht nach Hamburg abgegangen.
“l925, vor vierunddreiβig Jahren, hatte ich den ersten Gedanken zu einem Buche über die Masse. Aber der wirkliche Keim dazu war noch früher: eine Arbeiterdemonstration in Frankfurt anlässlich des Todes von Rathenau, ich war siebzehn Jahre alt.
“Wie immer ich es ansehe, mein ganzes erwachsenes Leben war von diesem Buch erfüllt, aber seit ich in England lebe, also seit über zwanzig Jahren, habe ich, wenn auch mit tragischen Unterbrechungen, kaum an etwas anderem gearbeitet. War es diesen Aufwand wert? Sind mir viele andere Werke entgangen? Wie soll ich es sagen? Ich muβte tun, was ich getan habe. Ich stand unter einem Zwang, den ich nie begreifen werde.
“Ich habe davon gesprochen, bevor viel mehr als die Absicht zu dem Buche da war. Ich habe es mit dem größten Anspruch angemeldet, um mich besser daran zu ketten. Während jeder, der mich kannte, mich dazu antrieb, es zu vollenden, habe ich es nicht eine Stunde früher abgeschlossen, als mir richtig schien. Die besten Freunde, die ich hatte, verloren in den Jahren ihren Glauben an mich, es dauerte zu lange, ich konnte es ihnen nicht verargen.
“Jetzt sage ich mir, dass es mir gelungen ist, dieses Jahrhundert an der Gurgel zu packen.”
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Auf dieses unschätzbare Buch wird nun der brasilianische Leser, in korrekter Übersetzung, Zugriff haben. Masse und Macht ist ein Lebenswerk, das sich völlig einer Herausforderung widmet und sich in einer verblüffenden Durchquerung der Geschichte und der universellen Kultur auflöst. Einzigartiges Leben, das sich jedoch dem Schicksal unser allen bis zu einem Punkt vermischt, daß Canetti sagen kann, er packe das Jahrhundert an der Gurgel.
Canetti sagt nur die Grundlagen. Er meint nicht die Strukturen der Gesellschaft oder des Individuums, sondern die Prozesse; die Prozesse, die dazu führen, daß jeder im Tod des Anderen die Nahrung seines eigenen Lebens sucht; die Prozesse, deren Wirkungen ungeheure, soziale, psychische, ökonomische, politische, religiöse und künstlerische Tragweite haben. Der Leser fühlt, daß man hier nur das unbedingt Nötige über die minimalen Prozesse sagt, die entfaltet, vervielfacht, vervollkommnet, verfeinert, die Geschichte in die Verkörperung der Gewalt und der Herrschaft, des Krieges und der Ausbeutung, verwandeln. Und etwas ist eigentlich unerhört in der Erzählung dieser Prozesse: Canetti arbeitet sie nämlich nicht gedanklich, sondern sinnlich durch. Canetti fühlt die Geschichte, er denkt nicht über sie nach; und insofern er innerhalb der von ihr erzeugten Affekte schreibt, ist sein Diskurs unvergleichbar, keiner philosophischen Richtung weder bestimmtem Wissensgebiet zuschreibbar.
Canetti auskultiert im Körper die germinalen Machtformen und die Affekte, die sie begleiten. Deshalb kommt der Körper im Buch zum Vorschein, durch und durch. Körper des Einzelnen, der die Berührung mit anderen Menschen fürchtet und sich in der Masse von der Furcht befreit; Körper, der sich in der Einheit Geld und Nation schmilzt oder sich in die Religion wirft; Körper, der die Beute packt, tötet und frisst und dadurch die Eingeweiden der Macht enthüllt; Körper, der die Kraft ausübt und sich schnell bewegt; Körper, der den Befehl, dieses Todesurteil, erhält, und indem er es vollstreckt, erleidet er die Qual des Stachel; Körper, der verwandelt oder hingegen in der Sklaverei fixiert wird; stehender, sitzender, liegender, hockender oder hingeknieter Körper, der die Haltungen der Macht äußert; unabänderlich sterblicher Körper des Souveräns, der auf alle Fälle überleben will.
In Masse und Macht gibt es eine wirkliche Physiologie, und nicht eine Psychopathologie der Macht. Physiologie, die die enge Verwandtschaft zwischen dem Paranoiden und dem Souveränen, zwischen Schreber und Hitler zeigt. Beide sind Objekte der selben Leidenschaft, des “ursprünglichen Bösen der Menschheit, ihre Verfluchung und vielleicht ihr Verderben” – Einer sein, der Überlebende sein, derjenige, der mit Zusammenwirken der Massen den Tod dadurch zu überschreiten versucht, daß er ihn auf den Körper des Anderen überträgt; ein Prozeβ, dem des Schamanen entgegengesetzt, der als Subjekt im Flieβen der Metamorphosen stirbt, solange bis er unter diesen die für die Verwandlungen des Lebens benötigten Kräfte zusammenrufen kann.
Seit dem Atombombenabwurf in 1945 hat sich die Situation des Überlebenden radikal verändert. Während im Osten und Westen riesige Doppelmassen sich rüsteten, die gefährlicherweise in den Krieg rennen können, verfügen die Souveräne von heute über eine absurde, undenkbare Vernichtungsmacht, die die Menschheit zu einem Scheideweg bringt: entweder überleben alle oder niemand.
“Gibt es irgendeine Möglichkeit den Überlebenden, den zu solchem ungeheuren Maße gewachsen ist, zu reduzieren? Diese ist die größte Frage und, sozusagen, die einzige. Die Spezialisierung und die Mobilität des modernen Lebens machen die Einfachheit, die Konzentration, dieser wesentlichen Frage täuschend.”
Aber dazu kommt noch eine andere Frage, daβ die Klarheit in Bezug auf die Ernsthaftigkeit vom Zeitalter, in dem wir leben, alarmierend steigt. Aber was für ein Zwang, was für ein Anspruch ist es denn, der Canettis Arbeit ordnet und ihm tut, was er zu tun hatte? Was für eine Stimme ist das, die die Dringlichkeit des Werkes vorschreibt und das Feuer der Beharrlichkeit am Brennen hält? Canetti behauptet, daβ er sie nie begreifen wird – und durch die Behauptung wirft er uns ein furchtbares Problem auf. Vielleicht wie die Buschleute, Menschen, dessen Körper das Bevorstehen gewisser Ereignisse sagt, ahnt Canetti, daβ der Überlebende sich, durch den Befehl über den Massentod, den nuklearen Tod, von seiner eigenen Angst erlösen wird. Da ist die Stimme, die die Dringlichkeit des Werkes vorschreibt; es ist keine Stimme des Befehls, der Drohung, des Todesurteils. Es ist die Stimme von Canettis Körper selbst, die Stimme des Lebens, die mehr denn je gehört werden muβ.
“Wer die Macht verringern will”, schreibt er am Ende seines Buches, “muss den Befehl angehen, gegenüber, ohne Furcht, und die Mittel finden, um ihn vom seinen Stachel zu befreien”. Masse und Macht ist die Frucht dieses von Canetti erlebten Prozesses, dieses Lebens, das die Macht der Überlebende in die geheimeren Winkel des Körpers draufgängerisch jagt und, indem er es enthüllt, sein Urteil aufhebt.
Übersetzung: Cecilia Diaz Isenrath
Publicado in
SANTOS, Laymert Garcia dos. Tempo de Ensaio. São Paulo: Companhia da Letras – Editora Schwarcz, 1989. pp. 95 a 98.
Leia Livros, ano VI, no 60, São Paulo, 15 de agosto – 14 de setembro de 1983.
image: Berlim, 1936. (foto: Bettmann/Corbis)
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